30.01.2023

Vom Öko-Kaufhaus zur Stadtteilschule

Dorit Kästner (Projektleiterin Landesbetrieb SBH | Schulbau Hamburg), Britta Heils (Gründungsschulleiterin) und Michael Specht (agn Projektleiter) im Gespräch mit Maike Groschek (Agentur ofat) über die Konzeptentwicklung, den Planungsprozess und die Herausforderungen und Chancen der Umwidmung eines Kaufhauses zur Stadtteilschule.

Frau Kästner, aus einem Kaufhaus eine Schule zu machen, ist nicht alltäglich. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Dorit Kästner: Aufgrund von steigenden Zahlen schulpflichtiger Kinder wurde im Jahr 2018 überlegt, welche Möglichkeiten es hier in Hamburg-Ottensen gibt, eine Stadtteilschule zu etablieren. Dabei wurden viele Möglichkeiten untersucht, bis die Idee entstand, das Vivo-Kaufhaus umzunutzen.

Welche Geschichte steckt hinter dem Bestandsgebäude?

Dorit Kästner: Das Kaufhaus wurde als ökologisches Kaufhaus geplant und hat sich im Laufe der Zeit zu einem Nachhaltigkeitszentrum entwickelt. Als Einkaufzentrum hat es von Anfang an nicht gut funktioniert, sodass die freien Flächen schon kurz nach der Gründung anderweitig vermietet wurden.

Was ist das Besondere und Erhaltenswerte an diesem Gebäude?

Dorit Kästner: Ich glaube, wir haben heutzutage gar keine andere Option als den Erhalt solcher Gebäude. Je weiter wir in der Planung voranschreiten, desto mehr Potenzial wird deutlich. Zum Beispiel das große Potenzial, wie wir mit den Räumen arbeiten können. Normalerweise gibt es für alle Schulen gleichermaßen ein vorgegebenes Flächenprogramm, das abgebildet werden muss. Diesmal läuft es andersherum: Wir haben die Fläche, und entwickeln dafür ein Raumprogramm. Das eröffnet uns beispielsweise die Chance, die verschiedenen Lernwelten, die wir erarbeitet haben, umzusetzen. Das ist etwas ganz Neues und in Deutschland bisher wahrscheinlich einzigartig. Bestehende Gebäude umzunutzen, wird die Zukunft sein. Und wir machen mit diesem Projekt einen großen Schritt in Richtung Zukunft.

Frau Heils, Sie sind die zukünftige Schulleiterin der Stadtteilschule. Wann haben Sie von dem Projekt erfahren?

Britta Heils: Ich bin Schulleiterin der Schule Bahrenfelder Straße, die gegenüber liegt. Durch die lokale Nähe und Verbundenheit habe ich mich schon früh mit der Idee für eine Stadtteilschule, die uns hier fehlt, befasst und auch im Bezirk dafür eingesetzt. Ich war also schon vor der offiziellen Projektidee gedanklich dabei. In der Planungsphase Null hat mich die Schulaufsicht eingeladen, am Entwicklungsprozess teilzunehmen, und seitdem bin ich von der Idee zur Umnutzung absolut begeistert.

 

Was begeistert Sie an diesem Projekt?

Britta Heils: Dieses Gebäude und die vorhandenen Räume inspirieren unheimlich. Ein solches Schulgebäude würde in der Form wahrscheinlich niemals gebaut werden. Dabei ist diese Offenheit genau richtig, da sich in Schulen zukünftig viel verändern kann und sollte. Es geht in Schulen immer um die Schülerinnen und Schüler und darum, eine Zukunft zu bereiten, in der sie zurechtkommen können. Wir müssen das Lernen und Lehren anders denken. Und hier bietet das Gebäude die gewisse Offenheit, die es braucht: für Lernprozesse, Freiräume, Entfaltungsmöglichkeiten.

 

Projektbeginn war die sogenannte Phase Null. Was genau ist in der Phase passiert und wer war daran beteiligt?

Dorit Kästner: Beteiligt waren die Behörde für Schule und Berufsbildung, wir von Schulbau Hamburg, Pädagoginnen und Pädagogen und sowie Architekt:innen. Gemeinsam haben wir überlegt, was die Schule leisten kann und leisten möchte. Außerdem wurden externe Expert:innen zu bestimmten Bereichen involviert. So wurde zum Beispiel das Büro Raumkunst aus Wien für die Entwicklung des Sportkonzeptes eingebunden. In mehreren Workshops und Exkursionen wurden dann verschiedene Themen wie Sport, Bildung für nachhaltige Entwicklung oder Digitalisierung erarbeitet, um das Schulkonzept zukunftsorientiert aufzustellen.

 

Dann folgte das VgV-Verfahren. Herr Specht, warum hat sich agn für dieses Projekt beworben?

Michael Specht: Die Projektidee hat uns hier in Hamburg direkt angesprochen. Das Gebäude ist ein echter Zeitzeuge und Stadtbaustein in Ottensen. Der kann nicht einfach zurückgebaut werden, sondern muss erhalten bleiben. Deswegen setzen wir uns im Planungsprozess auch für den maximalen Erhalt des Gebäudes ein. Ausschlaggebend waren das Thema Bestandserhalt sowie der regionale Aspekt – fast jeder aus unserem Team hat hier im Stadtteil schon einmal gewohnt – und die spannende Herausforderung, aus einem Kaufhaus eine Schule zu machen. Wir haben schon verschiedenste Schulbauten geplant und langjährige Erfahrung in dem Bereich, aber ein Schulkonzept in so ein besonderes Haus zu planen, ist einzigartig.

 

Es folgte die Einladung zum persönlichen Gespräch. Wie hat agn sein architektonisches Konzept präsentiert?

Michael Specht: Wir haben zu allen Kategorien Bilder entwickelt. Ich glaube, zwischen unseren Ideen und den Anforderungen der Phase Null gab es eine hohe Übereinstimmung. Wir haben zum Beispiel Potenzial in der Fläche zwischen dem Stahlgestell vor dem Haus und dem Eingang gesehen. Diese Transferzone haben wir in Bildern dargestellt. Eine weitere Idee war es, die Tagesstätte "Leben mit Behinderung" als Teil der Stadtteilschule zu erhalten und Synergien zu bilden. Außerdem haben wir überlegt, das Theater, das derzeit Untermieter im Vivo ist, als künstlerisch-musischen Bestandteil zu erhalten. Wir haben vorgeschlagen, das Dach als Aufenthaltsfläche zu nutzen, das Atrium als Herzstück gesehen und hierfür Raum-in-Raum-Ideen entwickelt. So wurden verschiedene Bausteine berücksichtigt und in Bildern nahbar gemacht. Uns war von Anfang an wichtig, ressourcenschonend zu planen, den Urban-Mining-Gedanken zu schärfen und maximal in den Planungsprozess zu integrieren.

Welche Herausforderungen gibt es im Planungsprozess?

Michael Specht: Das Gebäude wurde sehr hochwertig gebaut und ist grundsätzlich in einem guten Zustand, dafür dass es schon zwanzig Jahre in Betrieb ist. Eine Ausnahme bildet das Staffelgeschoss, das zurückgebaut werden muss. Es gibt einige konstruktive Herausforderungen, da vor zwanzig Jahren anders gebaut wurde. Beispielsweise haben wir heute viel höhere Anforderungen an Raum- oder Bauakustik. Eine weitere Herausforderung ist die thermische Behaglichkeit im Atrium. Unter dem Glasdach darf es im Sommer nicht zu heiß und im Winter nicht kalt werden. Das werden wir deutlich verbessern – gezielt mit Ertüchtigungsmaßnahmen und nicht mit dem Austausch von Bauteilen, um Ressourcen zu schonen, das Abfallaufkommen zu minimieren und mit dem Bestand bestmöglich umzugehen.

 

Inwieweit erfordert diese Art, den Bestand zu ertüchtigen, individuelle Lösungen?

Michael Specht: Eine Herausforderung im Planungsprozess sind die DIN-Normen, die uns in manchen Bereichen Steine in den Weg legen. Aber zusammen mit der Schulbau Hamburg und verschiedenen Sachverständigen entwickeln wir Lösungen für den maximalen Bestandserhalt und die Nutzung der vorhandenen Strukturen.

Welches Potenzial bietet der Bestand aus Planersicht?

Michael Specht: Das Projekt ist eine große Chance, neue Ansätze umzusetzen. In Skandinavien ist fast jede Schule mit einem großen Atrium als Herzstück ausgestattet, um das sich die anderen Räume anordnen. In Hamburg kennt man das bisher nicht. Hier im ehemaligen Kaufhaus ist das unter anderem möglich, weil das Gebäude im Bestand bereits eine Sprinkleranlage hat. Außerdem ermöglichen die tiefen Bestandsgrundrisse die Entwicklung der offenen Lernlandschaften. Die dunklen Mittelzonen können wunderbar mit untergeordneten Funktionen belegt werden. An den Innen- und Außenfassaden ist die Sprinkleranlage so verdichtet, dass wir auch diese erhalten können. Dies entspricht ebenfalls unserem Grundkonzept der maximalen Substanzerhaltung und Ressourcenschonung.  

 

Gibt es abgesehen von der Sprinkleranlage weitere bautechnische Besonderheiten?

Michael Specht: Ein weiterer Vorteil ist die robuste und massive Stahlbetonbauweise. In einigen Gebäudeteilen wurden sehr hohe Verkehrslasten eingeplant, dies erleichtert die Planung der Dachlandschaft und die differenzierte Nutzung der Freiflächen im Erdgeschoss. Weiter wurde, im Sinne der Bauteilaktivierung, eine Lüftungsanlage in die Geschossdecken integriert. Diese versorgt die tiefen Grundrisse mit technischer Luft, was erst einmal die Grundlage für die Nutzung bildet, da die bestehenden Fensteröffnungen eine natürliche Be- und Entlüftung ausschließen. Intelligent ist, dass die Luft mehrfach genutzt wird, da sie nicht nur die Lernbereiche versorgt, sondern auch das Atrium, und von dort aus weiter in die Tiefgarage geführt wird, d. h. das gleiche Luftvolumen wird dreifach genutzt.

 

Welche Chancen bietet der Bestand mit seinen Strukturen aus pädagogischer Sicht?

Britta Heils: Aus pädagogischer Sicht ist die große Gemeinschaftsfläche, die wir hier im Erdgeschoss vorfinden, einzigartig. Sie verbindet alle Fachbereiche miteinander. Hier begegnen sich die unterschiedlichen Kinder und Jugendlichen, lernen voneinander, die Älteren forschen, die Jüngeren können sich beteiligen, Menschen mit Behinderungen können sich problemlos integrieren. Diese Begegnungsmöglichkeiten finde ich in Schulen nicht oft. Das Atrium mit seiner Höhe und dem Lichteinfall schafft eine Transparenz und Offenheit nach innen und außen, die es in Schulen in der Form sonst nicht gibt. Insofern finde ich es auch unproblematisch, wenn es hier mal kälter und mal wärmer ist. Daran kann man üben, mit dem Klima umzugehen und Gewohnheiten zu hinterfragen.

Führt der Umgang mit dem Bestand auch zu einem eigenständigen pädagogischen Konzept?

Britta Heils: Der nachhaltige Planungsprozess soll auch in der Pädagogik aufgearbeitet werden. Das bedeutet, wir wollen bautechnische Themen sichtbar machen. Wie funktioniert Photovoltaik? Wie wird das Abwasser aufgefangen und wiederverwertet? Welche Geschichte steckt in diesem Gebäude? Das soll den Schülerinnen und Schülern gezeigt werden, damit sie das Gebäude besser begreifen können. Sie werden lernen, wie mit Temperatur, Akustik, vorhandenen Ressourcen umgegangen wird. Anhand des Gebäudes lassen sich Architektur und Nachhaltigkeit vermitteln. Das Gebäude ist ein Geschenk!

Die Bildung nachhaltiger Entwicklung ist mit dem Hamburger Masterplan BNE 2030 ein relevantes Thema im Schulbau. Wie treffen Nachhaltigkeit, Architektur und Pädagogik hier aufeinander?

Britta Heils: Als Schule der Nachhaltigkeit ist dieses Projekt genial: Das Gebäude bleibt fast komplett erhalten. Und jedes Element, das nicht mehr funktioniert, wird nachhaltig geändert. Beispielsweise Türen, die entfernt werden, werden sichtbar wiederverwendet. Und eben dieser Ansatz ist für die Heranwachsenden wichtig. Sie müssen wissen und verstehen, dass diese Bausubstanz ihre Zukunft ist. Das bedeutet auch, Denkweisen und Gewohnheiten anzupassen. Jede Facette wird im Rahmen des Nachhaltigkeitsgedankens umgesetzt werden. Wir überlegen genau, was wird neu angeschafft? Wie gehen wir mit vorhandenen Ressourcen um? Entsprechend werden auch die Bildungspläne hinterfragt. Nachhaltigkeit ist die Voraussetzung des Hamburger Masterplans BNE. Konkret heißt das: Inklusion, Demokratie, Bildung, Selbstständigkeit, ganz viele Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler. Genau das wird hier durch die großen Flächen, die Transparenz und die Offenheit möglich.

 

Gibt es denn auch klassische Schulräume und traditionelle Schulfächer?

Britta Heils: Wir haben keine Klassenräume, sondern Lerncompartments. Die sind in sich abgeschlossen, sodass die Schülerinnen und Schüler einen eigenen Hafen haben. Es gibt zwar eine Strukturierung in den Jahrgängen nach Altersklassen und Lernstand, aber grundsätzlich herrscht die Offenheit, in andere Bereiche hineingehen zu können. Es gibt einen Fächerkanon, den wir zu Fach- und Lernwelten kombinieren. Es gibt also fächerübergreifende Disziplinen. In den Naturwissenschaften gibt es beispielsweise nicht mehr den klassischen Biologieraum, den Chemieraum und den Physikraum, sondern es gibt eine große Fachwelt. Gleichzeitig entstehen Zonen, in denen die Jugendlichen forschen können und Bereiche für den kooperativen Austausch. So wird es verschiedene Fachwelten für Arbeiten und Technik, Kunst, Musik, Theater und Kultur sowie einen integrierenden Bereich der Geisteswissenschaften geben.

Das klingt so, als entstehe eine ganz neue Schulform.

Britta Heils: Die vielen verschiedenen Ansätze sind nicht neu, aber die Zusammensetzung ist neu – und der Mut zur Umsetzung.

 

Frau Kästner, welche Strahlkraft hat dieses Projekt hier in der Stadt und vielleicht sogar für ganz Deutschland?

Dorit Kästner: Ich denke, das Projekt wird eine enorme Strahlkraft entwickeln. Wir spüren jetzt schon großes Interesse in der Stadt, bei den Pädagogen und Pädagoginnen und in der Nachbarschaft. Auf der planerischen und baulichen Ebene und hinsichtlich des pädagogischen Konzeptes bietet das Gebäude sehr viel Potenzial. Diese Aspekte multiplizieren sich immer weiter – auch über Hamburgs Grenzen hinaus.

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