15.08.2012

Ästhetik des Weiterbauens

Die Umnutzung einer spätmittelalterlichen Bischofsburg zum neuen Standort für die Universität Hildesheim zeigt, wie planerische Umsicht auch bei einer Vielzahl anscheinend unvereinbarer Ansprüche zu einer überzeugenden Lösung führen kann.

Die Domäne Marienburg im Südosten von Hildesheim ist ein Ensemble mit über 650-jähriger Geschichte. Kern und Namensgeber der Anlage ist die 1346 durch Bischof Heinrich III. erbaute hochmittelalterliche Marienburg.

Das Büro agn konnte 2007 das VOF-Verfahren mit integriertem Wettbewerb für die Umwidmung der Domäne Marienburg zu einem „Kulturcampus“ für sich entscheiden und wurde mit der Generalplanung beauftragt.

Mit dem Neubau des Burgtheaters auf dem Gelände der Domäne verband sich das Ziel den ursprünglichen Charakter der Anlage wiederherzustellen. Dazu gehörte in erster Linie das Freistellen der ursprünglichen Kernburg. Die aus der letzten Nutzung als Eisfabrik resultierenden Umbauten wurden rückgebaut. Das Burgtheater entstand am Standort der alten Eishalle mit einer Abstandsfuge zum Palas, dem sogenannten „Hohen Haus“, und orientiert sich mit seinen Proportionen an dessen Abmessungen. Zur Ausstattung des Gebäudes zählen nicht nur die hochschulüblichen Räume für Forschung (Mitarbeiterbüros, Bibliothek, Verwaltung) und Lehre (Seminarräume und Mediothek), sondern auch ein komplettes Theater als Spielstätte und Probenraum.

Der Umbau des Hohen Hauses

Der komplizierteste und sensibelste Teil der Baumaßnahme war der Umbau des Palas. Bautypologisch handelt es sich dabei sowohl um einen Wohnturm als auch um einen Wehrturm, vergleichbar einem englischen Keep oder einem französischen Donjon. Das Hohe Haus ist neben dem Burgfried und der Umfassungsmauer ein Teil der ursprünglichen, hochgotischen Burg. Der Wohnturm mit seinen Außenabmessungen von 22 mal 13 Metern hat eine Firsthöhe von 30 Metern und verfügt über fünf Geschosse mit jeweils 150 Quadratmeter großen Räumen.

Ziel der Umbaumaßnahmen im Kernburgbereich war das sensible „Weiterbauen“ bei weitestgehendem Substanzerhalt und unter Berücksichtigung einer zukünftigen universitären Nutzung. Es ging also nicht um die reine Rekonstruktion, um das Wiederherstellen einer bestimmten Epoche. Die Anlage ist in ihrer Gesamtheit zwar sehr gut erhalten und der Anteil der hochgotischen Bauelemente überwiegt. Allerdings haben nachfolgende Epochen ebenfalls Spuren hinterlassen. So wurden frühere Umbauten teilweise sehr rücksichtslos durchgeführt; dennoch ergibt sich aus den entstandenen Überlagerungen eine spannende Ästhetik.

Ein Beispiel dafür sind die zur Hofseite gerichteten Fensteröffnungen. Im 19. Jahrhundert nutzte man das Hohe Haus als Kornspeicher. Zur Aufnahme der enormen Lasten wurde eine Mittelunterstützung der Balkendecke eingebracht. Außerdem wurden die Brüstungen der gotischen Fenster abgebrochen, um Ladeluken für die Korneinbringung einzubauen. Diese Holzrahmen sind aus der Gesamtästhetik des Gebäudes nicht mehr wegzudenken.

Modernisiertes Innenleben

Das Konzept für den Umbau des Hohen Hauses sah vor, die Maßnahmen zu konzentrieren und in ihrer Erscheinung zu minimieren. Zunächst sollte zur Kompensation des notwendigen zweiten Rettungsweges ein Sicherheitstreppenhaus als konzentrierter Block in das seitliche Querhaus des Hohen Hauses eingefügt werden. Im nächsten Schritt galt es, die Geschossdecken so zu ertüchtigen, dass sie die Belange des Brandschutzes, des Schallschutzes, der Statik, der Raumakustik, der Beheizung und Belüftung und der Installationsführung erfüllen – damit keine weiteren störenden An- oder Aufbauten in den Räumen notwendig sind.

Von Anfang an musste ein Team von Fachplanern die Vorstellungen des Konzeptes auf Realisierbarkeit prüfen und sich über Versuch und Irrtum an das Optimum annähern. Am Beispiel der Geschossdecken wird die Bedeutung einer integralen Planung besonders deutlich, denn es galt, anscheinend unvereinbare Ziele in Einklang zu bringen: Die vorhandene Holzbalkendecke sollte unbedingt erhalten werden. Außerdem sollte die zum Zweck der Kornspeicherung eingebaute Mittelunterstützung entfallen. Sie hätte die Nutzung zu stark eingeschränkt und entsprach vom Raumeindruck nicht der ästhetischen Logik des Gebäudes.

Für die Decke des umgenutzten Gebäudes untersuchten wir mehrere Varianten. Die zunächst favorisierte Variante war eine Holzbetonverbunddecke. Sie kombiniert die Materialeigenschaften beider Baustoffe, indem sie auf der Oberseite, der Druckzone, die Eigenschaften des druckfesten Betons nutzt und auf der Unterseite, der Zugzone, die Eigenschaften des zugstarken Holzes. Diese elegante Lösung mussten wir verwerfen, da bei der unüblichen Spannweite von 9 Metern der notwendige kraftschlüssige Verbund das Holz zerrissen hätte. Die Außenmauern konnten trotz ihrer enormen Dicke von 1,80 Metern bis 3 Meter und der für die Bauzeit ungewöhnlich guten Verarbeitung nur bedingt zur Lastabtragung herangezogen werden, denn der relativ weiche Kalkmörtel der Mauerwerksfugen limitierte ihre Tragfähigkeit. Das hohe Eigengewicht des Betons hätte die Substanz überlastet. Ohnehin war ein Teil der Holzbalken durch Überbelastung in der Zeit der Kornspeicherung gebrochen. Für die neue Nutzung als Seminarraum einer Universität war je Quadratmeter 500 Kilogramm Last nachzuweisen – und damit mehr als das einst durch die Kornlagerung erreichte Gewicht. Der Wegfall der Mittelunterstützung führte also zu einem ungünstigeren statischen System.

Parallel zum neuen Tragwerk waren moderne Heizungsund Klimatisierungstechnik aus denkmalpflegerischen Gründen so zu integrieren, dass die Innenwände von Aufbauten wie Heizkörpern frei bleiben. Andererseits konnte die Fußbodenheizung alleine die notwendige Heizleistung nicht erreichen. Da überdies die vorhandenen Öffnungsquerschnitte der historischen Fenster zu klein sind, um durch natürliche Lüftung den gewünschten Luftaustausch zu erzielen, war eine spezifische Problemlösung gefragt.

Das angesichts dieser Gemengelage aus Anforderungen und Einschränkungen entwickelte Konzept sah vor, eine neue Stahlträgerebene oberhalb der historischen Balken einzubauen. Sie kann mit einem geringen Eigengewicht die notwendigen Lasten aufnehmen, ohne das Gesamtbauwerk zu überfordern. Die Holzbalken bleiben ohne statische Funktion sichtbar erhalten. Innerhalb der neuen Decke verlaufen zwischen den Stahlträgern die Lüftungskanäle. Die Luft fließt unterhalb der Fußbodenheizung ein, durchspült diese und tritt an den umlaufenden Randkanälen wieder aus.

Diese vom agn-Planungsteam aus Architekt, Tragwerksplaner und Haustechniker gemeinsam entwickelte Konstruktionslösung erfüllt alle Anforderungen: Die Räume erhalten die notwendige Wärmemenge, für die Vorlesungen ist eine hohe Luftqualität sichergestellt und es sind keine Innenwandaufbauten notwendig. Der Warmluftstrom vor den Innenwänden verändert die bauphysikalischen Parameter des Raumes zudem dahingehend, dass auf eine Innendämmung im Bereich der neuen Fenster verzichtet werden kann. Mit dieser Lösung konnten wir das angestrebte Konzept minimaler sichtbarer Eingriffe erfolgreich in die Tat umsetzten.

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